Der Hansemarkt versetzt die City jeden Herbst ein bisschen zurück ins Mittelalter. Doch auch im Alltag blitzt die Vergangenheit immer wieder auf. So haben Bauarbeiten wiederholt gut erhaltene Teile der Stadtmauer oder andere „Bodenschätze“ ans Licht gebracht. „aufbruch city“ sprach mit dem Stadtarchäologen Ingmar Luther darüber, wie diese Spuren der Geschichte die Zukunft der City bereichern können.
Herr Luther, warum sieht man die Funde nicht mehr in der Stadt?
Weil wir die Funde erst einmal schützen müssen. Das Fundament des Schwanenturms etwa, das wir 2021 ausgegraben haben, ist aktuell wieder zugeschüttet, denn es ist sehr empfindlich. Die Steine sind umgeben von 700 Jahre altem Einkornmörtel. Regen und Frost setzen dem Mörtel ganz schnell zu, waschen ihn aus – und dann brechen uns die neun Meter Stadtmauer weg, die wir dort nachgewiesen haben. Schwieriger ist der Schutz von Holz wie beim Bohlenweg am Ostwall. Den haben wir sehr aufwendig geborgen, auch weil die DEW21 mit der Fernwärmeleitung nicht ausweichen konnte. Historisches Holz, das seit Jahrhunderten unter Luftabschluss in feuchtem Milieu liegt, hält sich wunderbar. Aber sobald wir es für 14 Tage nach oben holen, fängt es an, sich an allen Ecken zu verformen, richtig aufzugehen, und ist nach kurzer Zeit zerstört. Daher haben wir es zum Schloss Gottorf in Schleswig gefahren, wo es noch über Jahre hinweg in einer Speziallösung konserviert wird.
Werden die Dortmunder*innen diese Funde denn noch zu sehen bekommen?
Uns ist bewusst, dass die Menschen sich das wünschen. Am Tag des offenen Denkmals etwa kommen wir in den Austausch mit den Leuten und bekommen immer wieder wunderbares Feedback. Das Interesse ist enorm und spiegelt sich auch in den Klickzahlen beispielsweise von Beiträgen bei Radio 91,2 wider. Eine Redakteurin hat mir mal erzählt, unser Thema habe mit den Klicks locker eine Meldung des BVB geschlagen. Das zeigt, welches Interesse in der Bevölkerung vorhanden ist. Und diesen Wunsch, diese Rückendeckung kommunizieren wir, da, wo es sich ergibt, zunehmend an die Politik und innerhalb der Stadtverwaltung.
Sie machen also Werbung für die Vergangenheit?
Weil es Teil meiner täglichen Arbeit ist, weiß ich natürlich, welche großartige Stadt wir hier haben. Für mich ist es geläufig und inzwischen selbstverständlich, dass wir zum Beispiel in der Klosterstraße mehr als 70 Gräber gefunden haben und es sich daher um einen historisch besonders bedeutsamen Ort handelt – für andere ist es das nicht. Das heißt, wir müssen unsere tolle Geschichte mehr erzählen und ins Stadtbild holen.
Wie möchten Sie das tun?
Mein Ideenzettel ist irrsinnig lang. Da ist die Integration des Schwanenturms in das Stadtbild. Aber ich denke auch an die 100 Meter Stadtmauer vor dem Baukunstarchiv. Die könnten wir ausgraben und den Grünstreifen abtiefen, sodass man an der Stadtmauer entlanggehen kann. Dazu müssen aber ganz viele Fragen geklärt werden, da stehen wir noch ganz am Anfang. Das zweite ist der Holzbohlenweg. Ich habe schon Kontakt mit den Kolleg*innen vom Museum für Kunst- und Kulturgeschichte aufgenommen, um gemeinsam zu überlegen, ob er dort hinpassen könnte. Ich fände es grandios, wenn wir die Besucher*innen künftig in einer Ausstellung über den Bohlenweg, durch eine Glasplatte oder ähnlich geschützt, leiten könnten. Wir haben jeden einzelnen Stein geborgen und könnten ihn eins zu eins wieder zusammensetzen.
Was sind weitere Beispiele?
Archäologische Fenster, also Glasplatten im Boden oder an einer Mauer, wie es sie etwa in Aachen gibt. Da sieht man dann einen Brunnen, einen Entwässerungskanal oder das Fundament eines Gebäudes. Außerdem sollten wir das gefundene Material mehr in die Öffentlichkeit bringen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute auch haptische Erfahrungen machen können: Wie fühlt sich zum Beispiel eine Pfeilspitze an? Wir könnten ganze Etagen füllen mit Kulturspuren, Zeugnissen, Funden und Bodendenkmälern, es ist unglaublich. Wir haben so viel Potenzial. Das nutzen wir als Stadt noch gar nicht aus.
Planen Sie dabei auch mit digitalen Möglichkeiten?
Seit 2018 dokumentieren wir mit Laserscannern. Das heißt, wir haben von fast allen wichtigen Objekten sogenannte Punktwolken, die wir als Grundlage für digitale Nutzungen nehmen können: zum Beispiel online als 3-D-Modell mit weiterführenden Informationen oder für Virtual und Augmented Reality. Ich stelle mir vor, dass man die Leute am Fundort des Bohlenwegs am Ostwall zum Beispiel per QR-Code auf den Weg hinweist und sie über ihr Smartphone in die virtuelle Fundgrube hineinschauen können. Mir ist wichtig, dass wir eine vernünftige hybride Lösung hinbekommen. Ich bin Fan moderner Technik, aber um unsere Vermittlungsarbeit richtig zu machen, um die Leute zu sensibilisieren, müssen sie auch einmal die Stadtmauer anfassen können.
Welche Bedeutung könnte es für die City haben, wenn das historische Dortmund sichtbarer wäre?
So etwas entspricht nicht nur dem Wunsch der Bevölkerung. Die City ist schließlich auch die historische Keimzelle der Stadt. Es würde die Innenstadt interessanter machen und eine neue Zielgruppe anlocken. Davon könnten womöglich auch Handel, Gastronomie und Hotelgewerbe profitieren.
Wenn Sie freie Hand und ein großes Budget hätten: Welches Vorhaben würden Sie umsetzen?
Am liebsten würde ich ein Großprojekt wie den Schwanenturm und die Stadtmauer als Kick-off hinlegen, zeitgleich mit zwei, drei archäologischen Fenstern. Ich würde unbedingt Virtual- und Augmented-Reality-Technik einbeziehen und viel mehr in die Öffentlichkeit tragen. Das ist eigentlich mein größter Wunsch – ich freue mich jeden Tag darüber, was wir hier alles haben, es macht unheimlich Spaß. Für solche Pläne braucht es aber ein größeres Team. Deshalb würde ich mir sechs neue Stellen schaffen, damit wir das alles parallel umsetzen könnten.